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Sonntag, 19. Mai 2024

1020

Manche Menschen nehmen die Form als Substanz – und sind zufrieden. Der ihnen angemessene Lebensraum ist die Großinstitution, das ausgreifende Ordnungs- und Regelsystem. Etwa die Kirche. Oder auch die Streitkräfte. Hier sind sie besonders willkommen. Sie funktionieren ohne ernsthafte Anfragen.

Sonntag, 12. Mai 2024

1019

Alle Erfahrung ist Differenzwahrnehmung. Differenzwahrnehmung nötigt zu Differenzminimierung. Erfahrung hat, wer sich dieser Nötigung zu entziehen vermag. Differenzwahrnehmung ist permanent auch jenseits aller Differenzminimierung. Erfahren sein heißt, Differenz und ihre Wahrnehmung so zu handhaben, dass beide permanent erträglich bleiben.

Sonntag, 14. April 2024

1018

Derzeit noch einmal mitten im Kairos (siehe Nr. 639). Noch einmal mitten im Augenblick wartender Tat. Denken ist ausgesetzt, muss pausieren. Die Eigentümlichkeit dieses Kairos: Erstmals in dieser Dimension, erstmals mit dieser Tragweite ist der Kairos selbst verursacht, angestiftet, provoziert. Und dies nicht bloß als Simulation, nicht bloß als Fiktion zu anderen oder gar gegenteiligen Zwecken. Es wird in einer sich zunehmend verselbstständigenden Dynamik wirklich, was rückblickend mit einem noch gänzlich offenen und unspezifischen Vielleicht seinen Anfang genommen hat. Die wesentliche (auch theologische) Frage, die mich in dieser ergreifenden Dynamik bewegt: Lässt sich Fügung fügen? In religiöser Diktion: Ist Gott tatsächlich mit mir in allem, was ich tue (Jos 1,9)? Die allgemeine Antwort auf diese Frage ist mir nicht fraglich. Fraglich ist mir allein das Einzelne: ob sich mir wirklich fügend fügt, was ich wirklich will. Ob das Wagnis des Willens in der Fügung die gewollte Wirkung hat, oder ob sich der Wille am Ende doch wieder dem sich Fügenden fügen muss.

Samstag, 23. März 2024

1017

Wirklichkeit als Mannigfaltigkeit unausgesetzt sich wandelnder Relationen (siehe Nr. 1013): eine Bezeichnung, mit deren Hilfe sich vieles klären und aufklären lässt. Etwa der messianische Gedanke der Vergängnis, die Wahrnehmung und Interpretation des Wirklichen als etwas, das im Vergehen begriffen ist. Dieser Gedanke verliert unmittelbar seinen finalen, damit auch seinen katastrophischen Charakter.

1016

Wissenschaft kann regressiv wirken, wenn sie nicht eingebettet ist in eine aufgeklärte Interpretation. Wissenschaft und Aufklärung sind nicht identisch.

1015

Nicht alles, was ist, muss auch bezeichnet werden.

Samstag, 2. März 2024

1014

Die Idee, die Hoffnung der AI: Annäherung an das Göttliche durch künstliche Optimierung menschlichen Bewusstseins, durch künstliche Perfektionierung menschlicher Rationalität. Eine alte, gerade auch eine christliche Verirrung: die Verirrung in die Analogie. Als habe Gott Bewusstsein, als sei Gott rational, als sei er irgendwie sonst dem Menschen ähnlich oder vergleichbar. Wir kommen Gott oder dem Göttlichen nicht näher durch Optimierung oder gar Perfektionierung des Menschen. Wir optimieren und perfektionieren lediglich die ontologische Differenz. Das gilt schon für den gesamten Prozess okzidentaler Rationalisierung, das gilt nun insbesondere für den kommenden vorläufigen Höhepunkt dieses Prozesses: AGI.

Montag, 12. Februar 2024

1013

Physiker sagen uns, es gäbe keine Zeit. Es gäbe lediglich Veränderung im Raum. Das macht unseren Begriff von Wirklichkeit wankend. Was aber, wenn wir noch weiter gehen müssten? Was, wenn es auch keinen Raum gäbe? Wie ließe sich Wirklichkeit dann noch begreifen? Wirklichkeit wäre dann vielleicht noch dies: eine Mannigfaltigkeit unausgesetzt sich wandelnder Relationen. Damit ließe sich Wirklichkeit aber allenfalls noch bezeichnen, nicht mehr begreifen.

Anmerkung eins: Spätestens seit Kant wissen wir, dass es Zeit und Raum nicht an sich gibt. Es gibt sie nur für uns. Zeit und Raum sind (a priori) gegeben mit der menschlichen Vernunft. Zeit und Raum sind (reine) Formen der Anschauung und damit Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt. Man könnte auch sagen: Zeit und Raum sind a priori gegebene, unvermeidliche und notwendige Fiktionen unseres Bewusstseins. Irreführend, gar gefährlich ist allerdings erstens: die Vorstellung, Zeit und Raum als Fiktionen unseres Bewusstseins seien einfältig, unwandelbar und identisch. Zweitens: die Vorstellung, Zeit und Raum als Fiktionen unseres Bewusstseins seien Bedingungen der Möglichkeit wahrer Erkenntnis. Irreführend und gefährlich sind diese Vorstellungen, weil sie Universalität und Wirklichkeitsmächtigkeit als Möglichkeit verheißen.

Anmerkung zwei: Ist die Bezeichnung der Wirklichkeit als Mannigfaltigkeit unausgesetzt sich wandelnder Relationen halbwegs angemessen, dann müssen Versuche, der so bezeichneten Wirklichkeit natürliche oder moralische Gesetze zu entnehmen, die so bezeichnete Wirklichkeit mit Hilfe natürlicher oder moralischer Gesetze zu handhaben, früher oder später unvermeidlich scheitern. Derartige Versuche haben allenfalls eine mittlere Kraft und Reichweite.

Donnerstag, 8. Februar 2024

1012

Es gibt lebensältere Menschen, von denen man noch nicht einmal sagen kann, sie hätten sich so etwas wie Kindlichkeit bewahrt. Damit würde man ihnen fälschlicherweise zugestehen, sie hätten im Werden ihrer inneren Haltung eine aktive Rolle gespielt. Diese Menschen sind von Natur aus kindlich, sie sind natürlicherweise Kosmologen – Menschen also, die nicht anders können als anzunehmen, alles sei gefügt, alles würde, alles ließe sich fügen. Diesen Menschen fehlt die natürliche Anlage zur Entzauberung. Sie sind nicht selten grundgestimmt heiter. Frei jedoch werden sie nie sein.

1011

Es heißt, die Wahrheit werde uns frei machen (Joh 8,32). Wenn wir frei hören, denken wir glücklich gerne hinzu. Von Glück war messianisch jedoch nie die Rede.